Handstickerinnen und Stickprogrammierer:innen: Annäherung zweier Praxisgemeinschaften
KW18/2025 – In den 1990er Jahren formulierten die US-amerikanische Sozialanthropologin Jean Lave und der Schweizer Sozialforscher Étienne Wenger ihr Konzept der Praxisgemeinschaften, der «communities of practice».

In den 1990er Jahren formulierten die US-amerikanische Sozialanthropologin Jean Lave und der Schweizer Sozialforscher Étienne Wenger ihr Konzept der Praxisgemeinschaften, der «communities of practice». Sie verbinden darin das Handwerk mit den sozialen Beziehungen in den Gemeinschaften der Könner:innen. In Praxisgemeinschaften verfeinert man Handwerkswissen, man wertschätzt einander und man wetteifert miteinander. Innerhalb der eigenen Praxisgemeinschaft erkennt man sich am geteilten Wissen, an gemeinsamer Geschichte und an Erzählungen. Man stimmt in Vielem überein: Materialbezug und -vorstellungen, Arbeitsbedingungen, Arbeitsplatz und Werkstatt, Werkzeuge, Diskurse und Ästhetik, Wertschätzung, Respekt und Lösungswege. Man teilt Strategien der Wissensweitergabe und natürlich Könnerschaft. Diese Gemeinsamkeiten dienen auch zur Abgrenzung: «Wir und die Anderen».
Wie entwickelt sich die Könnerschaft weiter bei so viel Gemeinsamkeit? Lave und Wenger stellten fest: Praxisgemeinschaften erneuern sich von ihrer Peripherie her. Interessierte nehmen das Handwerk wahr, schauen von aussen zu, nähern sich an, werden am Ende vielleicht selbst initiiert, und tragen so zur Weiterentwicklung der Praxis bei.
Bisher haben Forschende meist eine Praxisgemeinschaft in den Blick genommen. In unserem Projekt, das die beiden Disziplinen Ethnologie und Informatik in einen Dialog bringt, nähern sich nun zwei Praxisgemeinschaften einander an – die der Handstickerinnen und die der Stickprogrammierer:innen. Die einen sticken von Hand am Stickrahmen und bewegen die Nadel von einer Seite des Stoffes auf die andere; die anderen programmieren am Laptop, eine Maschine führt die Nadel und stickt mit Ober- und Unterfaden. Entsprechend der unterschiedlichen Stickarten, ist auch das Endprodukt, die Stickerei, nicht gleich. Gleich ist jedoch die Passion fürs Sticken.
Die Angehörigen der beiden Praxisgemeinschaften in unserem Projekt begeben sich in die Peripherie ihrer jeweiligen Könnerschaft und nähern sich von dort einander an.1 Indem sie sich gegenseitig beim Arbeiten zuschauen, die skills der «Anderen» verstehen lernen, passiert etwas Berührendes: Handstickerinnen und Stickprogrammierer:innen erkennen einander in der handwerklichen Sorgfalt, lernen einander wertzuschätzen, fordern einander spielerisch heraus – im Stick-Pingpong, im Stick-Hackathon. Sie stellen schliesslich fest, dass sie einander ergänzen können: Sie entwickeln gemeinsame Stickereien, nehmen einander Arbeit ab, um den anderen Raum zu verschaffen für das, was ihnen wichtig ist und worin sie gut sind.
Es ist bislang kaum erforscht, wie die Verständigung zweier Praxisgemeinschaften miteinander erfolgt. In unserem Fall der Annäherung von Handstickerinnen und Stickprogrammierer:innen haben wir dies erprobt – und es hat sich gezeigt, dass darin Potential für ähnliche interdisziplinäre Projekte liegen könnte, die andere Fachdisziplinen zusammenbringen.
Literatur:
Lave, Jean and Wenger, Étienne (1991): Situated Learning: Legitimate Peripheral Participation. Cambridge University Press.
Wenger, Étienne (1998): Communities of Practice: Learning, Meaning, and Identity. Cambridge University Press.