Sticken als vermittelndes Grenzobjekt zwischen Informatik und Ethnologie
KW49/2023 – Eine der treibenden Kräfte hinter der digitalen Transformation ist die Informatik. In welchem Verhältnis steht diese zu anderen Disziplinen?

Die Informatik schafft die technischen Voraussetzungen, bietet aber auch bereits – geprägt durch internationale Technologiekonzerne – einen Grossteil der konkreten Umsetzungen und diktiert so substanziell den Transformationsprozess. Dabei gehen Disziplinen unter, deren Bezug zur Digitalisierung nicht offensichtlich ist oder die sich dem Digitalisierungsprozess bis anhin entzogen haben, oder werden zumindest an den Rand gedrängt. Damit möglichst viele Teile der Gesellschaft im Zuge der digitalen Transformation nicht langfristig abgespaltet werden, muss ein Dialog zwischen Vertreter:innen der Informatik und bislang weitestgehend informatik-fremden Disziplinen entstehen. Anderenfalls werden über deren Köpfe hinweg Entscheidungen getroffen, die notwendigerweise einer Abspaltung Vorschub leisten. Nicht nur würde dies die hegemoniale Stellung der Informatik verstärken – es würde sie auch kulturell ärmer machen und langfristig gehen ihr, im Hinblick auf die digitale Transformation, potenzielle Impulsgeber verloren.
Für den Austausch über mögliche Impulse aus unterschiedlichen Disziplinen, hier Informatik und Ethnologie, wird zunächst eine gemeinsame Sprache der Verständigung benötigt. In unserem Projekt haben wir dazu der Ansatz einer sogenannten «Trading Zone» (Galison 1997) verfolgt. In einer «Trading Zone» treffen Gruppen aus unterschiedlichen Disziplinen zusammen, die von sich aus keine gemeinsame Sprache besitzen und dabei selbst vordergründig gleichen Objekten unterschiedliche Bedeutungen zuweisen. Es geht darum, eine Art der Kommunikation zu finden. Eine Voraussetzung für eine solche interdisziplinäre, gleichberechtigte Kooperation ist ein gemeinsames Interesse, das als sogenanntes «Boundary Object», hier das Sticken, ausgewiesen wird (Star u. Griesemer 1989).
Durch die Digitalisierung kann ein Handwerk bereichert werden, es können aber auch bis anhin wichtige kulturelle Aspekte verloren gehen. So ist traditionelles Handwerk in der sozialen Organisation einer Gesellschaft verankert: Skills, Techniken und Strategien werden erlernt, praktiziert und über Generationen weitergegeben; das erstellte Artefakt wird mit ökonomischen, sozialen oder ideellen/rituellen Bedeutungen belegt und geht mit kulturellen Urheberrechten einher. Durch die Digitalisierung kann ein Produkt zwar reproduziert werden, die damit verbundene Arbeit und zugeschriebene Geschichte, Kontexte und Bedeutungen gehen dabei jedoch verloren. Im herkömmlichen Handwerk entwickeln sich Motive und Techniken praktisch und in ihren kulturellen Belegungen weiter. Ein Grund hierfür ist, dass beispielsweise beim Sticken «Skilled Practice» der Logik des Stickfadens folgt und davon ausgehend die Möglichkeiten von Mustern weiter ausreizen kann. Durch das Fehlen des manuellen Handwerks würde dieser Prozess im Zuge der Digitalisierung zu Ende gehen, da nur noch aus bestehenden Datenbanken Muster abgerufen werden und der Bezug zur Quelle, mit der weiter entwickeltes kulturelles Hintergrundwissen verbunden ist, verloren geht.
Die Digitalisierung kann ein Handwerk aber auch bereichern. Sie ermöglicht beispielsweise, dass repetitive Routinen an eine Maschine delegiert werden können und die Hand frei wird für komplexere Herausforderungen oder dass durch Algorithmen generativ neue, die Handwerker:innen inspirierende Muster entstehen können. Mit der Verbreitung von computergesteuerten Stickmaschinen hat die Informatik Einzug in die Stickerei gefunden und sich über Consumer Geräte in den Heimgebrauch ausgeweitet. Während vorerst nur vorgegebene Muster angepasst werden konnten, erlauben neuere Programmierumgebungen wie TurtleStitch in unserem Projekt den Einsatz im Schulunterricht ab der Mittelstufe.
Galison, Peter. 1997. Image and Logic: A Material Culture of Microphysics. Chicago: The University of Chicago Press.
Star, Susan Leigh und James R. Griesemer. 1989. «Institutional Ecology, `Translations' and Boundary Objects: Amateurs and Professionals in Berkeley's Museum of Vertebrate Zoology, 1907-39.» Soc Stud Sci 19 (3): 387–420.